Hochsensibilität und Synästhesie

Heute hat es bei mir „Klick“ gemacht und die Erkenntnis oder besser die Einsicht kam ziemlich plötzlich. Ja, ich bin hochsensibel. Muss man auch erstmal kapieren. Als ich Kind war, gab es das so noch nicht. Weder das Wissen, dass es hochsensibele Menschen gibt, noch hätte es irgendwen interessiert. In meiner Kindheit hatte jeder zu funktionieren. Da war gar kein Platz dafür, dass jemand eventuell nicht so ist, wie man es gern hätte.

Ich war und bin ein sehr empfindsamer Mensch. Emotionen anderer nehme ich stark wahr. Ausserdem merke ich sofort, wenn jemand nicht ehrlich ist oder nicht zu dem steht was er sagt. Unter vielen Menschen fühle ich mich unwohl, dabei ist es egal, ob es sich um ein Einkaufszentrum oder eine Familienfeier handelt. Das war schon immer so. Auf Schulfeiern saß ich im Allgemeinen in einer Ecke und heulte. Und wusste nicht warum. Auf Klassenfahrten ähnliches. Im Gegensatz dazu ließen mich Nachtwanderungen und ähnliches kalt. Ich habe ein sehr großes Blickfeld, manchmal tatsächlich sowas wie Augen im Hinterkopf.Schon immer hatte ich eine tiefe Verbindung zur Natur. Ich fühle mich draussen wohl, Tiere fühlen sich in meiner Nähe wohl (nur mit Topf-Pflanzen in der Wohnung hab ichs einfach nicht). Hochsensibele Menschen werden oft als Menschen beschrieben, die äußere Reize nicht gut oder gar nicht filtern können und dadurch überreizen. Ich denke, das stimmt so nicht. Ich denke, hochsensibele Menschen nehmen im Ganzen mehr wahr als andere. Ihre Sinne sind feiner, so dass sie wesentlich mehr Informationen erhalten, teils wahrscheinlich sehr unterschwellig, und das Gehirn muss diese zusätzlichen Informationen verarbeiten. Das schafft es nicht immer und dadurch wird der Mensch überreizt. Oft habe ich mich in mein Zimmer zurück gezogen und nur gelesen. Oder Gedichte geschrieben. Allein habe ich mich am wohlsten gefühlt. Jegliche Gefühle habe ich weg geschoben, mir verboten, weil es zum Teil nicht zu ertragen war. Nachfragen oder Verständnis habe ich nie erfahren, nur Vorwürfe zu hören bekommen. Eine Zeit lang stand für mich im Raum, ob ich eventuell an ADHS leiden könnte, auch wenn die typischen Charakterzüge nicht ganz auf mich passten. Auch stand für mich, insbesondere wegen der teilweise heftigen Stimmungsschwankungen (und damit verbunden Gedanken über den Freitod) für mich gedanklich Borderline im Raum, was mich irgendwann bewog eine Psychotherapeutin zu Rate zu ziehen. Diese ließ mich vor allem erstmal körperlich durchchecken: großes Blutbild, EKG und eine Untersuchung beim Neurologen. Körperlich und neurologisch ist alles in Ordnung, im Gespräch konnte sie bei mir auch keinen wirklichen „Behandlungsbedarf“ fest stellen. Sprich, psychisch und physisch gesund. Und trotzdem war irgendwas mit mir nicht in Ordnung. Das war vor etwa 3 Jahren, auch da gab es das Wissen um Hochsensibilität noch nicht.

Bei mir kommt noch ein zweiter Faktor dazu: Synästhesie. Hierbei handelt es sich um eine Besonderheit in der Sinneswahrnehmung. Eine Wahrnehmung spricht normalerweise nur einen Sinn an. Bei Synästhetikern werden jedoch zwei oder mehr Sinne angesprochen, die nichts miteinander zu tun haben. So gibt es Synästhetiker, die, wenn sie gesprochene Worte hören Farben sehen. Oder Musik in Farben visualisieren. Oder Farben fühlen und/oder schmecken. Auch das absolute Gehör und eine Art fotografisches Gedächtnis, wobei es sich hierbei nicht nur um Gesehenes handelt (Zeit-Raum-Synästhesie) fallen in diesen Bereich. Dass es so etwas wie Synästhesie gibt, wusste ich schon lange. Dass Farben bei mir einen Geruch haben und ich bei Musik Bilder im Kopf habe (die nicht zwangsläufig etwas mit dem eigentlichen Inhalt zu tun haben müssen), war und ist für mich normal. Ebenso, dass Farben und Düfte Gefühle hervor rufen können, ist bei mir recht normal. Dass das alles in den Bereich der Synästhesie fällt, wusste ich nicht. Den Begriff kannte ich nur im Zusammenhang mit Parfüms, wo eben genau diese Kopplung zweier Sinne, die nicht zusammen hängen, oft versucht wird zu erzwingen. Was jedoch nicht möglich ist. Synästhesie ist angeboren und kann nicht künstlich herbei geführt werden (Halluzinationen sind keine Synästhesie).

Ob meine feinen Sinne nun durch die Synästhesie oder die Hochsensibilität entstanden sind, weiss ich nicht. Allerdings denke ich, dass die Synästhesie ein Weg des Gehirns ist, die zusätzlich erhaltenen Informationen irgenwie zu verarbeiten und in einer verwertbaren (und speicherbaren) Form wieder zu geben. Wie oben schon beschrieben habe ich ein sehr großes Blickfeld. Ich höre jedoch auch sehr gut und sehr genau, vor allen Dingen, was Dissonanzen betrifft. Diese wiederum verursachen mir zum Teil physische Schmerzen. Mir fallen winzige Details auf, auch was Mimik und Gestik betrifft, sowie winzige Veränderungen in der Art zu sprechen. Ich mag auch laute Geräusche nicht, kann mit vielem jedoch mittlerweile umgehen (zwangsläufig, sonst könnte ich nicht kochen).

Mit dem Wissen, das ich heute habe, erklären sich für mich viele Probleme, die ich früher hatte (und zum Teil noch habe). Vielleicht hätte ich, wenn es damals schon das Wissen darum gegeben UND es jemanden interessiert hätte, andere Strategien entwickeln können als die, die ich habe. Nämlich alles innerlich weg zu sperren und bestimmte Situationen einfach zu meiden, so gut es geht. Ich sitze zwar nicht mehr in meinem Elfenbeinturm, doch habe ich innerlich noch sehr sehr viele Blockaden, innere Mauern, die weg müssen. Oder zumindest niedriger gemacht, damit wieder etwas durch kann. Ich denke, dass ich durch die Meditation mittlerweile ein gutes Werkzeug an der Hand habe, um zu lernen, mich den Einflüssen und Emotionen zu stellen. Und mich damit nicht mehr selbst auszusperren. Und ich kann auch bei meiner Tochter darauf achten und sollte sich meine Vermutung bewahrheiten, ihr selbst helfen, damit umzugehen, denn Synästhesie ist vererbar, ebenso wie Hochsensibilität. Was für mich wiederum ein weiterer Punkt ist, der meine Theorie, dass beides zusammenhängt, bestärkt.

Wer sich weiter informieren möchte:

Synästhesie: Ein guter Wikipedia-Artikel zur Synästhesie, vor allem auch wegen der genaueren Beschreibung der Zeit-Raum-Synästhesie interessant.

In der Welt gab es ebenfalls einen gut geschriebenen Artikel zum Thema Synästhesie, ein bisschen weniger wissenschaftlich als Wikipedia.

Hochsensibilität: Verein zur Förderung hochsensibler Menschen

Eine weitere sehr informative Seite zum Thema.

Zur Hochsensibilität gibt es auch diverse Berichte auf anderen Blogs.

4 Kommentare zu „Hochsensibilität und Synästhesie

    1. Es ist anstrengend. Aber es tut auch einfach gut zu verstehen, dass man doch keinen Dachschaden hat. ADS ist allerdings auch nicht ohne und ich glaube, dass die Grenzen zwischen Hochsensibilität und ADS/ADHS recht schmal sind.

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  1. Es ähneln sich wahrscheinlich die Bewältigungsstrategien. Bei der Hochsensibilität werden ja tatsächlich viel mehr Reize wahrgenommen, während mit AD(H)S einfach das Arbeitsgedächtnis nicht gut genug funktioniert.

    Was ich bei meinem Freund, auch hochsensibel, beobachte, ist dass er einerseits sehr gut mit Menschen kann. Er „braucht“ soziale Beziehungen, aber er kann sich schlecht abgrenzen.

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    1. Ja, das Gefühl kenne. Mit ein Grund, warum ich eine Weile an Borderline dachte – ich hasse Dich, verlass mich nicht. Dieses extreme emotionale Hin und Her und das ewige Gefühl wesentlich mehr zu geben, als zurück kommt.

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